Das Lehrbuch lehrt Geschichte, aber keine Geschichten – als Schülerin des Gymnasiums Himmelsthür beim Projekt „Die Geschichte beginnt in der Familie …“

01 dieGruppeDie Internationale Nichtregierungsorganisation (NGO) „Grundlagen der Freiheit“ („Foundations for Freedom“), die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz und die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen führen in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung das interkulturelle Jugendbegegnungsprojekt „Die Geschichte beginnt in der Familie…“ durch und genau an diesem nehmen wir teil. Insgesamt 21 Jugendliche aus drei Ländern kamen in den Sommerferien für eine Woche in Lviv (Ukraine) zu unserer ersten von drei Begegnungen zusammen.

Dafür begab ich mich mit sechs weiteren deutschen Jugendlichen im Alter von 16 - 24 Jahren von Hannover aus auf die Reise in die Ukraine. Erst mit dem Zug bis nach Berlin und von dort aus mit dem Bus nach Polen, wo wir die polnische Gruppe trafen. Für die müssen wir ein Bild für die Götter gewesen sein, denn die Nachtfahrt war alles andere als entspannt gewesen. Gemeinsam sind wir dann erneut 6 Stunden mit dem Zug nach Lviv gefahren. Dort sollte das erste von drei Treffen stattfinden.

 

Erlebnisse in Lviv

04 AustauschSchnell wurde klar, Lviv ist wunderschön, aber vieles ist ganz anders als zu Hause in Hildesheim. Für umgerechnet 5 Euro konnten wir in einem ziemlich feinen Restaurant mitten im Herzen der Stadt Essen gehen. Sofort baute sich eine ungezwungene Atmosphäre zwischen den Teilnehmern auf und auch Sprachbarrieren gab es kaum. Wenn es doch zu welchen kam, wurde eben "mit Händen und Füßen" gesprochen. Unsere ukrainischen Gastgeber machten uns mit der Stadt vertraut, zeigten uns ihre Licht - und Schattenseiten.

Während wir tagsüber damit beschäftigt waren, das Interview mit einem Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges vorzubereiten, konnten wir abends das Flair der Stadt kennen lernen. Dabei war es schon eigenartig, in Bars elektronische Ballerspielautomaten zu sehen, bei denen man auf russische Politiker statt auf Zielscheiben zielen konnte. Als wir dann ins Hotel zurückfuhren, war das Taxi völlig überfüllt, aber niemand, vor allem nicht der Taxifahrer, schien sich daran zu stören.

 

Die Arbeit mit den Zeitzeugen

05 ZeitzeugenberichtAber ebenso eindrücklich war der geschichtliche Teil des Projektes. Wir besuchten gemeinsam mit der Gruppe das ehemalige Judenviertel und viele Gedenkstätten, beschäftigten uns mit der eigenen Familiengeschichte und vor allem mit der Frage: "Was hat meine Familie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges getan und was haben ihre Mitglieder gefühlt, gedacht und gewünscht?". Wenn wir vom Zweiten Weltkrieg reden, dann reden wir oft sehr distanziert davon, dabei ist es nicht einmal ein Jahrhundert her. Außerdem gibt es noch Zeitzeugen, die davon erzählen können. Doch für uns wirkt die Geschichte von Krieg und Verfolgung schon so fern. Wir kennen keinen Krieg und hoffentlich werden wir auch nie das Gefühl kennen, nicht zu wissen, ob die Liebsten überhaupt noch nach Hause kommen. Ob das Essen für alle reichen wird. Ob Morgen die Sonne noch für uns aufgeht.

Und dann trafen wir Leute, die genau diese Ängste hautnah miterlebt haben. Unter anderem: Stepan Horetchyj, der sich für ein Interview zu Verfügung stellte. Die Geschichten, die er erzählte, waren manchmal witzig, oft aber traurig, nachdenklich und verzweifelt, aber immer voller Hoffnung. Als der Krieg begann, war er noch ein Kind. So erzählte er davon, wie er gemeinsam mit seinem besten Freund begeistert Flugzeugen hinterherlief, bis eines davon plötzlich ein Dorf in Brand setzte - unbegreiflich für ein Kind. Er berichtete von seiner Zeit in Gefängnissen und Lagern. Wie er weggesperrt wurde, tagelang hungerte, versuchte zu fliehen, gefasst wurde, wieder hungerte. Er weinte, als er erzählte, dass er nach all der Zeit seinen alten Lehrer wieder sah. Ihn hatten sie mitgenommen, bevor die Schule geschlossen wurde. Und doch sprach unser Zeitzeuge voller Hoffnung zu uns, wünschte, dass wir so etwas nie erleben müssen, und umarmte uns. Obwohl er ukrainisch sprach und wir seine Worte auf Englisch übersetzt bekamen, spürte man seinen Schmerz. Seinen persönlichen Schmerz, der in keinem Buch festgehalten ist. Seine Geschichte.

Und genau darum geht es im Projekt " History begins in the family". Um seine Geschichte und um unsere. Im November treffen wir uns ein weiteres Mal in Auschwitz (Polen) und werden uns dort damit beschäftigen, was UNSERE Familien im Zweiten Weltkrieg erlebt haben.

Für uns gab es nie ein Leben mit Krieg - für sie nie wieder eines ohne.

Victoria Nieswiec, 11 D